„Nur selbstsichere Leiter delegieren Verantwortung an andere weiter.“ (John Maxwell)
Die Kraft des Vertrauens
„Wer seiner Führungsrolle gerecht werden will, muss die Vernunft besitzen, die Aufgaben den richtigen Leuten zu übertragen, und genügend Selbstdisziplin, ihnen nicht ins Handwerk zu pfuschen.“
Theodor Roosevelt Jr. (1858-1919, US-Präsident und Friedensnobelpreisträger)
Diese Weisheit spiegelt sich im Wirken Jesu wider. Er berief die Jünger und gab ihnen Verantwortung. Er sandte sie aus, lehrte sie, begleitete sie – und dann vertraute er ihnen die Fortsetzung seines Werkes an. „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“ (Joh 20,21). Welch ein Vertrauen!
Jesus war der Sohn Gottes. Doch er entschied sich, andere zu bevollmächtigen, um durch sie zu wirken. Nach seiner Himmelfahrt legte er das Schicksal seiner Kirche in die Hände fehlbarer Menschen – ein unglaublicher Vertrauensbeweis.
Hindernisse auf dem Weg zur Bevollmächtigung
Warum fällt es uns oft so schwer, andere zu bevollmächtigen? Maxwell nennt drei häufige Hindernisse:
1. Die Angst, ersetzt zu werden
Eine tiefe menschliche Sorge ist die Angst, nicht mehr gebraucht zu werden. Doch hier begegnet uns ein wunderbares Paradox:
„Man macht sich allerdings erst dadurch unersetzlich, wenn man sich verfügbar macht.“ Wer andere aufbaut und befähigt, wird selbst wertvoller.
Im Reich Gottes gilt dieses Prinzip in besonderer Weise.
Jesus sagte: „Wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden“ (Mt 16,25). Wer Macht und Kontrolle loslässt, gewinnt eine tiefere Form der Autorität – die Autorität eines Dieners, der andere groß macht.
2. Widerstand gegen Wandel
„Überträgt man Verantwortung, verändert sich vieles. Das ist der Preis des Fortschritts.“ Veränderung kann beunruhigen, besonders wenn wir an Vertrautem festhalten wollen.
Die Kirchengeschichte zeigt uns: Immer wenn Gläubige den Mut hatten, Verantwortung zu teilen – mit Laien, mit Frauen, mit Jugendlichen, mit Menschen aus anderen Kulturen – wuchs die Kirche und erneuerte sich. Der Heilige Geist wirkt durch Vielfalt und Wandel. „Siehe, ich mache alles neu“ (Offb 21,5) – diese Verheißung gilt auch für unsere Strukturen und Dienste.
3. Fehlendes Selbstbewusstsein
„Viele Menschen beziehen ihren Selbstwert und ihr Selbstvertrauen aus ihrer Arbeit oder ihrer Stellung.“ Wer unsicher ist, klammert sich an Titel und Positionen.
Doch wahre Identität kommt von innen, nicht von außen. Als Christinnen und Christen finden wir unseren tiefsten Wert darin, Kinder Gottes zu sein – geliebt und angenommen, unabhängig von unserer Leistung. Aus dieser Sicherheit heraus können wir andere fördern, ohne uns bedroht zu fühlen.

Die befreiende Macht der Bevollmächtigung
Wenn wir anderen Verantwortung übertragen, geschieht etwas Wunderbares: Sie wachsen, die Gemeinschaft gedeiht, und wir selbst gewinnen eine neue Form der Freiheit.
„Menschen, die Selbstvertrauen besitzen, betrachten Veränderungen als Anreiz. Denn sie gehen davon aus, dass ein Mensch wirklich wichtig sein kann und seine Umgebung beeinflussen wird.“ (Buck Rogers zugeschrieben)
Maxwell formuliert es so: „Wir brauchen Leiter, die als Mutmenschen so gerne anderen beistehen, dass sie keinen Anspruch mehr auf ihren Job erheben. Denn Führungskräfte wie diese sind doch nie ohne Arbeit und niemals arm an Mitarbeitern. So seltsam es klingt, große Leiter gewinnen an Autorität, indem sie sie abgeben.“
Diese Wahrheit erleben wir in vielen Bereichen unserer Gemeinden. Der Pfarrer, der Ehrenamtliche wirklich eigenverantwortlich arbeiten lässt, gewinnt Mitstreiter. Die Katechetin, die Jugendliche selbst Glaubensinhalte gestalten lässt, erlebt deren Begeisterung. Die Caritasgruppe, die Hilfesuchende nicht nur versorgt, sondern befähigt, gewinnt neue Helfer aus dem Kreis der einst Hilfsbedürftigen.
Bevollmächtigung als gegenseitige Stärkung
„Bevollmächtigt man andere, kann das auch das Selbstvertrauen dieser Personen stärken. Bevollmächtigung strahlt Stärke aus. Sowohl für den Bevollmächtigten als auch für den Mentor.“
Im ersten Petrusbrief lesen wir von der „königlichen Priesterschaft“ (1 Petr 2,9) Alle Getauften haben Anteil am Priestertum Christi. Diese Überzeugung bedeutet: Jeder Christ hat eine Berufung, eine Sendung, eine Verantwortung. Die Aufgabe der Leitenden ist es, diese Berufungen zu entdecken, zu fördern und freizusetzen.
Maxwell bringt es auf den Punkt: „Die Wahrheit ist, dass Befähigung mächtig ist – nicht nur für die Person, die entwickelt wird, sondern auch für den Mentor. Indem man andere vergrößert, wird man selbst größer.“
Das Gegenbild: Unterdrückung statt Bevollmächtigung
„Unsichere Führungskräfte hingegen verbringen ihre Zeit damit, ihren Mitmenschen zu misstrauen, und tun alles, was sie können, um das Potenzial und die Entwicklung anderer zu untergraben.“
Wie tragisch, wenn Misstrauen und Kontrolle das Miteinander vergiften! Maxwell warnt: „Man muss mit anderen untergehen, wenn man sie unterdrücken will. Und wenn man das tut, verliert man jede Kraft, andere aufzurichten.“
Jesus selbst kritisierte die religiösen Führer seiner Zeit, die „schwere Lasten auf die Schultern der Menschen legen, aber selbst keinen Finger rühren wollen, um sie zu tragen“ (Mt 23,4).
Wahre geistliche Autorität zeigt sich nicht in Kontrolle, sondern in Ermächtigung.

Eigenverantwortlichkeit in der Praxis
Was bedeutet das alles konkret für uns in unseren Gemeinden, Gruppen und Familien?
- Begabungen suchen: Achtsam wahrnehmen, welche Gaben und Talente in unserer Mitte vorhanden sind.
- Aufbauen: Durch Ermutigung, Schulung und persönliche Begleitung in andere investieren.
- Mittel bereitstellen: Die nötigen Mittel, Räume und Informationen zur Verfügung stellen.
- Autorität und Verantwortung übertragen: Nicht nur Aufgaben delegieren, sondern auch echte Entscheidungsbefugnis geben.
- Loslassen: Den Mut haben, andere ihren eigenen Weg gehen zu lassen, auch wenn sie manche Dinge anders machen als wir.

Eine Vision für die Kirche
Stellen wir uns eine Kirche vor, in der dieses Prinzip der Eigenverantwortlichkeit lebendig ist: Gemeinden, in denen Menschen ihre von Gott gegebenen Gaben entdecken und einsetzen können. Gruppen, in denen jeder Verantwortung übernimmt. Familien, in denen Kinder ermutigt werden, ihre eigene Beziehung zu Gott zu entwickeln.
Der Apostel Paulus gibt uns dieses Bild im Epheserbrief: „Er [Christus] setzte die einen als Apostel ein, andere als Propheten, andere als Evangelisten, andere als Hirten und Lehrer, um die Heiligen für die Erfüllung ihres Dienstes zuzurüsten, für den Aufbau des Leibes Christi“ (Eph 4,11-12).
Bemerkenswert: Die Aufgabe der Leitenden ist nicht, alles selbst zu tun, sondern „die Heiligen für die Erfüllung ihres Dienstes zuzurüsten“. So wird der Leib Christi aufgebaut – durch viele Menschen, die in Eigenverantwortlichkeit ihren je eigenen Beitrag leisten.
Schlussgedanke: Ein Vermächtnis der Bevollmächtigung
Das größte Vermächtnis, das wir hinterlassen können, sind nicht die Aufgaben, die wir selbst erledigt haben, sondern die Menschen, die wir befähigt haben.
Jesus wusste das. Sein irdisches Wirken war kurz – nur etwa drei Jahre. Aber er investierte in Menschen, die sein Werk weiterführen würden.
Er bevollmächtigte sie mit seinem Geist und sandte sie in die Welt.
In seiner Abschiedsrede sagte Jesus zu seinen Jüngern:
„Wer an mich glaubt, wird die Werke, die ich vollbringe, auch vollbringen, und er wird noch größere vollbringen“ (Joh 14,12).
Welch ein Ausdruck von Vertrauen und Bevollmächtigung!
Mögen auch wir den Mut haben, andere zu bevollmächtigen, Verantwortung zu teilen und uns gemeinsam in den Dienst des Reiches Gottes zu stellen.
P. Oliver Heck, inspiriert von John C. Maxwell
Überblick über bisher erschienen Artikel in der Reihe christliche Führung.
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