Einführung
Die Indische Philosophie verbindet Nachdenken, Leben und religiöse Anschauungen zu einem ganzheitlichen Weg. Sie ist damit weiter gefasst als westliche Philosophie, da sie nicht nur Theorie und Praxis vereint, sondern auch die spirituelle Dimension als untrennbaren Teil des menschlichen Strebens nach Wahrheit betrachtet. Während im westlichen Denken oft Philosophie, Lebensführung und Religion in getrennten Bereichen verortet werden, bilden sie in der indischen Tradition eine Einheit, in der Erkenntnis, Lebenspraxis und spirituelle Erfahrung einander durchdringen und bereichern.
Dieser ganzheitliche Ansatz erinnert uns daran, dass wahre Weisheit nicht allein durch intellektuelle Anstrengung, sondern durch die Verbindung von Herz, Geist und Seele erlangt wird. Die indische Tradition lehrt uns, dass die tiefsten Wahrheiten nicht nur verstanden, sondern gelebt werden müssen – eine Einsicht, die auch für andere spirituelle Wege wertvoll ist.
Grundsätzliches zur indischen Philosophie
- Die eine indische Philosophie gibt es nicht. Es existiert eine unüberschaubare Fülle von Strömungen, die sich teilweise auch in vielen Dingen widersprechen. Als allgemein bekannte und extreme Beispiele können etwa die Yogis genannt werden, die die Entsagung bis zum Äußersten praktizieren können, z.B. durch Nacktheit oder das Schlafen auf einem Nagelbett. Auf der anderen Seite steht z.B. das Kamasutra, eine Sammlung von Lehren zur Lebensentfaltung und Sinnesfreude, die im Westen oft verkürzt als reine Erotikanleitung aufgefasst wird.
- Aus westlicher Sicht ist ein grundsätzliches Merkmal indischer Denktraditionen das Bemühen, Gegensätze miteinander zu vereinen. Während im Westen Ideen und Religionen oft einen allgemeingültigen Anspruch erheben, ist dies in der indischen Philosophie weniger ausgeprägt. Dies trägt dazu bei, dass Buddhisten und Hindus traditionell daran gewöhnt sind, andere Weltanschauungen zu tolerieren.
- Der indische Philosoph Tagore wies Einstein in einem Gespräch darauf hin, dass westliche Wissenschaften alles bis ins Kleinste aufspalten. Indische Traditionen aber eher den Zusammenhang mit dem Gesamten suchen und dort die Wahrheit finden.
- Aus westlicher Sicht erscheint der Götterglaube der Hindus durchaus fremd. Im Hinduismus gibt es Brahman als universelle Weltseele oder universelles Bewusstsein, das als höchste Realität gilt. Daneben existieren bedeutende Götter wie Vishnu (der Erhalter), Shiva (der Zerstörer und Erneuerer) oder z.B. Ganesha (der Gott des Anfangs und der Weisheit, erkennbar an seinem Elefantenkopf). In der Philosophie Shankaras spielt dieser Glaube kaum eine Rolle.
- Den Buddhismus, der ebenfalls in Indien entstanden ist, kann man als Reformbewegung verstehen, die auf die überbordende Ritualisierung, das Kastensystem und die soziale Ungleichheit im Hinduismus reagierte. Im ursprünglichen Buddhismus gibt es keinen Geisterglauben. Auch im Buddhismus haben sich viele Strömungen herausgebildet, die nebeneinander existieren. So ist heute ein Geisterglaube im tibetischen Buddhismus oder in volksbuddhistischen Traditionen (Thailand, Vietnam usw.) sehr präsent. Die Traditionen und religiösen Praktiken variieren stark. Im ursprünglichen Buddhismus gibt es keinen Schöpfergott. Buddha ist ein Erleuchteter, kein Gott. Deshalb gibt es keine Einigkeit darüber, ob der Buddhismus überhaupt als Religion betrachtet werden kann. In vielen Traditionen werden sogenannte Bodhisattvas verehrt – Menschen, die durch spirituelle Praktiken Erleuchtung erlangt haben und als Helfer und Beschützer wirken.
- Wer über indische Philosophie sprechen möchte, benötigt viel Hintergrundwissen, Erfahrung und auch Praxis. Indische Philosophie lässt sich für Menschen mit westlicher Prägung wohl nur annäherungsweise verstehen.
Gute Quellen:
Mall, Ram Adhar (2012): Indische Philosophie – Vom Denkweg zum Lebensweg
Weitere Informationen: https://wiki.yoga-vidya.de/Shankara
Shankara: „Das Kleinod der Unterscheidung“
Ich wähle hier exemplarisch eine hinduistische Strömung des Shankara (oder Shankaracharya) aus.
Die zeitlose Weisheit von Shankara: Eine Einführung für westliche Leser
In unserer heutigen Welt, wo wir oft nach Antworten auf die tiefsten Fragen des Lebens suchen, bietet die Philosophie des indischen Denkers Shankara bemerkenswerte Einsichten, die auch für Menschen mit christlichem Hintergrund zugänglich und wertvoll sein können.
Wer war Shankara?
Die Überlieferungen schildern ihn als einen brillanten jungen Mann vor, der mit nur acht Jahren bereits die heiligen Schriften seiner Tradition vollständig gemeistert hatte. Mit sechzehn verfasste er tiefgründige philosophische Kommentare, die noch heute studiert werden. Shankara lebte im 8. Jahrhundert in Indien und wurde nur 32 Jahre alt, doch in dieser kurzen Zeit hinterließ er ein philosophisches Erbe, das bis heute nachwirkt – vergleichbar mit der Bedeutung, die Augustinus oder Thomas von Aquin für die christliche Theologie haben.

Die Grundidee: Atman und Brahman
Der Kern von Shankaras Lehre lässt sich in einem einfachen Gedanken zusammenfassen: Was wir wirklich sind (unser wahres Selbst oder „Atman„) ist identisch mit dem göttlichen Grund allen Seins (in seiner Tradition „Brahman“ genannt).
Denken Sie an folgendes Beispiel: Wenn Sie sich fragen „Existiere ich?“, können Sie diese Frage nicht wirklich verneinen. Selbst wenn Sie zweifeln, muss es jemanden geben, der zweifelt. Diese unmittelbare Gewissheit Ihrer eigenen Existenz ist das, was Shankara als „Atman“ bezeichnet – Ihr unverleugnbares Selbst.
Für christliche Leser mag dies an Bibelstellen erinnern wie Apostelgeschichte 17:28, wo Paulus sagt: „Denn in ihm leben, weben und sind wir.“ Während die westlich-antike Tradition und die hinduistische Traditionen unterschiedlich sind, findet sich hier eine ähnliche Intuition: Unser wahres Sein ist tiefer mit Gott verbunden, als wir gewöhnlich annehmen.
Die drei Kernaussagen Shankaras
Shankaras Philosophie wird oft in drei Sätzen zusammengefasst:
- Brahman allein ist wirklich (Brahma Satyam) – Nur der göttliche Urgrund besitzt vollkommene Realität. (https://wiki.yoga-vidya.de/Brahma_Satyam)
- Die Welt ist nicht ultimativ wirklich (Jagan Mitya) – Die materielle Welt, wie wir sie wahrnehmen, hat keine eigenständige, dauerhafte Existenz. (https://wiki.yoga-vidya.de/Jagan_Mithya)
- Das individuelle Selbst ist identisch mit Brahman (Jiva Brahmaiva Aparah) – Unser wahres Selbst ist nichts anderes als das göttliche Sein selbst. (https://wiki.yoga-vidya.de/Jiva)
Brahman, Atman und Jiva nach Shankara (Advaita Vedanta)
In Shankaras Advaita Vedanta (Nicht-Dualismus) werden diese Konzepte so verstanden:

Brahman – [Reines Essenz, höchstes Sein, reines Bewusstsein]
- Die absolute, höchste Realität – rein, unveränderlich und ewig
- Ohne Attribute (nirguna) in seiner wahren Form
- Die einzige wahre Existenz; alles andere ist letztlich Illusion (Maya)
- Beschrieben als Sat-Chit-Ananda: reine Existenz, reines Bewusstsein, reine Glückseligkeit
Atman – [transzendentes Bewusstsein des Menschen]
- Das wahre Selbst, identisch mit Brahman
- Shankara betont: „Aham Brahmasmi“ (Ich bin Brahman)
- Nicht verschieden vom Brahman – der Unterschied ist nur scheinbar
- Die Erkenntnis dieser Identität führt zur Befreiung (Moksha)
Jiva – [weltverhaftetes Bewusstsein des Menschen]
- Die scheinbar individuelle Seele, eingeschränkt durch Unwissenheit (Avidya)
- Wie ein Spiegelbild des reinen Atman, verzerrt durch Maya
- Scheint getrennt zu sein, ist aber in Wirklichkeit nicht vom Brahman verschieden
- Erlebt Freude und Leid nur aufgrund der Identifikation mit Körper und Geist
Shankaras besondere Perspektive
Die Kernlehre Shankaras ist, dass die wahrgenommene Dualität zwischen Jiva und Brahman eine Täuschung ist. Die Differenzierung existiert nur auf der empirischen Ebene (Vyavaharika), nicht auf der absoluten Ebene (Paramarthika). Der Weg zur Befreiung besteht darin, durch Wissen (Jnana) die Illusion der Trennung zu überwinden und die fundamentale Einheit zu erkennen.
Was ist Maya?
Maya ist in Shankaras Philosophie nicht einfach „Illusion“ oder „Täuschung“, wie oft vereinfacht übersetzt wird. Es ist vielmehr die geheimnisvolle Kraft, die bewirkt, dass wir die eine, ungeteilte göttliche Wirklichkeit (Brahman) als vielfältige, getrennte Welt wahrnehmen. In Shankaras Philosophie steht Maya für die illusorische Kraft, die die ultimative Realität (Brahman) verhüllt und die Erscheinungswelt hervorbringt. Maya ist nicht real im absoluten Sinne, aber auch nicht völlig unwirklich – sie hat eine phänomenale oder relative Existenz.
Maya bewirkt, dass sich das grenzenlose Brahman scheinbar als begrenzte individuelle Seele (Jiva) manifestiert. Durch die verhüllende Kraft der Maya identifizieren wir uns mit dem Körper, dem Geist und dem Ego und vergessen unsere wahre Natur als Brahman.

Das Wellenbeispiel: Der Ozean (Brahman) und die Wellen (Jivas). Jede Welle erscheint als separate Entität mit eigener Form und Bewegung, doch in Wirklichkeit besteht sie nur aus Wasser und ist vom Ozean nie getrennt gewesen. Die scheinbare Individualität der Welle ist wie Maya – eine vorübergehende Form ohne eigene substantielle Realität. Wenn die Welle erkennt „ich bin Wasser“ statt „ich bin eine Welle“, hat sie ihre wahre Natur (Jiva Brahmaiva Aparah) verwirklicht.
Das Topf-Raum-Beispiel: Der Raum in einem Topf (Ghata-Akasha) scheint vom allumfassenden Raum (Maha-Akasha) getrennt zu sein. Diese scheinbare Trennung wird durch die Begrenzung des Topfes verursacht, ähnlich wie Maya den Jiva durch Körper und Geist begrenzt erscheinen lässt. Wenn der Topf zerbricht, wird offensichtlich, dass der Raum immer ein und derselbe war. So ist der Jiva immer Brahman, auch wenn Maya ihn als begrenzt erscheinen lässt.
Das Goldschmuck-Beispiel: Gold (Brahman) nimmt verschiedene Formen als Schmuckstücke (Jivas) an. Die Namen und Formen der Schmuckstücke sind Maya, während ihre Substanz immer Gold bleibt. Ein Armband mag denken „ich bin ein Armband“, aber seine wahre Natur ist Gold. Wenn es seine Goldnatur erkennt, versteht es „ich bin Gold“ (Jiva Brahmaiva Aparah).
Das Spiegelbild-Beispiel: Die Sonne (Brahman) spiegelt sich in verschiedenen Wassergefäßen (Jivas). Obwohl es viele Spiegelbilder gibt, gibt es nur eine Sonne. Die Spiegelung ist Maya, eine Erscheinung ohne eigene unabhängige Existenz. Wenn das Wasser verdunstet oder das Gefäß zerbricht, verschwindet das Spiegelbild, aber die Sonne bleibt unverändert.
Maya ist die schöpferische und illusorische Kraft, die die phänomenale Welt (Jagat) hervorbringt. Sie ist das Prinzip, das die Erscheinungswelt projiziert. „Jagat Mithya“ ist die Schlussfolgerung oder das Ergebnis des Wirkens von Maya – die so erschaffene Welt ist nicht absolut real. Sie ist aber auch nicht völlig unwirklich, aber ihre scheinbare Unabhängigkeit und Substanzialität ist eine Illusion, erzeugt durch Maya. Wenn das wahre Wissen (Jnana) aufdämmert, wird erkannt, dass die Welt nicht getrennt von Brahman existiert, sondern nur eine Erscheinungsform des Brahman ist.
Somit ist Maya das Prinzip oder die Kraft, die bewirkt, dass wir die Welt als substantiell und vom Selbst getrennt wahrnehmen, während „Jagat Mithya“ das Urteil über den ontologischen Status dieser durch Maya projizierten Welt ist.
Stellen Sie sich Maya als einen kosmischen Schleier vor – nicht als etwas, das eine Wahrheit verbirgt, sondern als etwas, das die eine Wahrheit in scheinbar viele verschiedene Dinge aufteilt. Es ist wie ein Prisma, das das eine weiße Licht in ein Spektrum von Farben zerlegt.
Ein christliches Verständnis von Maya
Für christliche Leser mögen zunächst Bedenken aufkommen: Bezeichnet Maya unsere Welt als „unwirklich“? Widerspricht dies nicht dem christlichen Verständnis der Schöpfung als gut und real? Der Schlüssel liegt im Verständnis verschiedener Realitätsebenen. Ein hilfreiches Bild könnte sein:
Denken Sie an einen Traum, den Sie letzte Nacht hatten. Während Sie träumten, erschien alles vollkommen real – die Orte, Menschen, Emotionen. Beim Aufwachen erkennen Sie jedoch: Der Traum war real als Erfahrung, aber nicht in derselben Weise real wie Ihr Wachzustand.
Maya bedeutet nicht, dass die Welt nicht existiert, sondern dass sie nicht in der Weise existiert, wie wir sie gewöhnlich wahrnehmen – als dauerhaft, unabhängig und von Gott getrennt.
Maya durch ein christliches Prisma betrachtet
In der christlichen Tradition finden sich durchaus vergleichbare Gedanken:
„Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort“: In 1. Korinther 13:12 spricht Paulus davon, dass wir jetzt wie durch einen Spiegel in rätselhafter Gestalt sehen, später aber von Angesicht zu Angesicht. Diese begrenzte Wahrnehmung des Göttlichen ähnelt dem, was Maya in Shankaras Philosophie beschreibt. Paulus wählte das Wort Spiegel, weil in der Antike Spiegel nur sehr unklar waren und nicht mit heutigen Spiegeln zu vergleichen sind.
Maya im Alltag verstehen
Wie wirkt Maya in unserem täglichen Leben? Hier ein einfaches Beispiel:
Maria sitzt im Stau und wird zunehmend frustriert. „Dieser Stau ist furchtbar! Ich komme zu spät zur Arbeit!“ denkt sie. In diesem Moment erlebt sie den Stau als sehr real und getrennt von sich selbst – als etwas, das „ihr“ widerfährt.
Aus Shankaras Perspektive ist diese Trennung – Maria hier, der Stau dort – Teil der Maya. In der tieferen Realität gibt es keine absolute Trennung zwischen Maria, dem Stau, den anderen Autofahrern und dem Rest des Kosmos. Alles ist Ausdruck der einen göttlichen Wirklichkeit.
Wenn Maria diese tiefere Einheit erkennt, verändert sich ihre Erfahrung. Der Stau existiert weiterhin auf der relativen Ebene, aber ihre Identifikation mit der getrennten „Maria im Stau“ löst sich. Sie erkennt: „Ich bin mehr als diese momentane Frustration. Auf einer tieferen Ebene bin ich mit allem verbunden.“
Das Seil-Schlangen-Gleichnis
Ein klassisches Beispiel, das Shankara verwendete, um Maya zu erklären, ist das Gleichnis vom Seil, das im Dämmerlicht für eine Schlange gehalten wird:
Sie gehen in der Dämmerung einen Pfad entlang und sehen plötzlich eine Schlange vor sich. Ihr Herz rast, Adrenalin schießt durch Ihren Körper – all diese Reaktionen sind real. Als Sie näher kommen und Licht auf das vermeintliche Reptil fällt, erkennen Sie: Es ist nur ein Seil!
War die Schlange real? Ja und nein. Die Angsterfahrung war real. Die Schlange als unabhängiges Wesen existierte jedoch nur in Ihrer Wahrnehmung. Die tiefere Realität war immer das Seil.
In ähnlicher Weise ist unsere Erfahrung der Welt als Sammlung getrennter, unabhängiger Entitäten eine Fehlwahrnehmung der tieferen Einheit. Diese Fehlwahrnehmung erzeugt reales Leiden, aber sie entspringt einer fundamentalen Verkennung der Wirklichkeit.
Maya überwinden
In der christlichen Tradition könnten wir sagen: Wir sind berufen, die Welt „in Christus“ zu sehen – also durch die Augen des Glaubens, der die tiefere Einheit aller Dinge in Gott erkennt.
Shankara würde sagen: Durch spirituelle Erkenntnis (vidya) können wir den Schleier der Maya durchschauen und die allumfassende göttliche Realität erkennen.
Praktische Schritte auf diesem Weg könnten sein:
- Kontemplatives Gebet und Meditation, die uns helfen, über unsere gewöhnliche Wahrnehmung hinauszugehen
- Das Studium heiliger Texte, die uns tiefere Perspektiven auf die Realität eröffnen
- Gemeinschaft mit spirituell erwachten Menschen, die bereits einen klareren Blick auf die Wirklichkeit haben
- Achtsamkeit im Alltag, die uns hilft, die Momente zu erkennen, in denen wir uns mit begrenzten Identitäten identifizieren
Die Brücke zwischen den Traditionen
Während christliche und hinduistische Traditionen unterschiedliche Wege gehen, teilen sie die Erkenntnis, dass unsere gewöhnliche Wahrnehmung begrenzt ist und dass eine tiefere Wirklichkeit auf uns wartet.
Für Christen liegt diese tiefere Wirklichkeit in der liebenden Gemeinschaft mit Gott in Christus. Für Shankara liegt sie in der Erkenntnis unserer wesenhaften Einheit mit dem göttlichen Brahman.
In beiden Traditionen geht es letztlich darum, den Schleier zu lüften, der uns von unserem wahren Wesen und von Gott trennt.
Eine Einladung zur tieferen Wirklichkeit
Vielleicht haben Sie selbst schon Momente erlebt, in denen der Schleier der Maya dünner wurde – in der Stille eines Waldes, in einem Moment tiefer Liebe, in der Betrachtung des Sternenhimmels oder in der Gemeinschaft mit anderen im Gebet.
Diese Momente sind keine Täuschungen, sondern Einblicke in eine tiefere Wirklichkeit, die immer da ist, wenn wir die Augen haben, sie zu sehen. Sie laden uns ein, über unsere begrenzte alltägliche Perspektive hinauszuwachsen und in die größere Wahrheit einzutreten, die sowohl Shankara als auch die christliche Tradition auf ihre je eigene Weise bezeugen.
In den Worten des christlichen Mystikers Meister Eckhart, der Shankaras Gedanken erstaunlich nahekommt: „Das Auge, mit dem ich Gott sehe, ist dasselbe Auge, mit dem Gott mich sieht.“
Praktische Bedeutung für den Alltag
Was bedeutet diese abstrakte Philosophie für unser tägliches Leben? Shankara lehrte, dass diese Erkenntnis zu einem ganzheitlichen Leben führt:
- Persönliche Integration: Wenn wir verstehen, dass wir nicht nur fragmentierte Wesen sind, sondern ein ganzheitliches Selbst, führt dies zu psychischer Gesundheit und innerer Harmonie.
- Harmonisches Familienleben: So wie die Gedanken in unserem Geist eine Einheit bilden sollten, können auch die Mitglieder einer Familie in Harmonie leben, wenn sie ihre tiefere Einheit erkennen.
- Gesellschaftlicher Zusammenhalt: Dieses Prinzip lässt sich auf Gemeinschaften, Nationen und die gesamte Menschheit ausdehnen – wir sind alle Manifestationen der einen göttlichen Wirklichkeit.
Für christliche Leser mag dies an Paulus‘ Bild vom Leib Christi erinnern (1. Korinther 12), wo verschiedene Glieder eine Einheit bilden und füreinander sorgen.
Die Brücke zum Christentum
Obwohl Shankaras Philosophie aus einer anderen religiösen Tradition stammt, gibt es bemerkenswerte Berührungspunkte mit christlichem Denken:
- Die Suche nach einer tieferen Wirklichkeit jenseits der materiellen Welt
- Die Vorstellung einer grundlegenden Einheit aller Dinge in Gott
- Die Idee, dass das Göttliche irgendwie in uns gegenwärtig ist
Natürlich gibt es auch wichtige Unterschiede. Das Christentum betont stärker die personale Beziehung zu Gott und die bleibende Bedeutung der geschaffenen Welt. Dennoch kann Shankaras Denken uns helfen, bestimmte Aspekte unserer eigenen Tradition tiefer zu verstehen.
Ein Gedankenexperiment
Stellen Sie sich vor, Sie stehen vor einem Spiegel. Sie sehen Ihr Spiegelbild – aber ist das wirklich „Sie“? Es ist nur ein Bild. Nun stellen Sie sich vor, Sie betrachten Ihre Gedanken, Gefühle und Ihren Körper. Sind diese „Sie“? Shankara würde sagen, dass auch diese nur Erscheinungen des wahren Selbst sind, nicht das Selbst selbst.
Die Frage „Wer bin ich wirklich?“ führt uns in die Tiefe unseres Wesens, wo wir nach Shankara die Einheit mit dem göttlichen Grund entdecken können – eine Einheit, die immer schon da war, aber von unseren oberflächlichen Identifikationen verdeckt wurde.
Ein Gebet zur Reflexion
Lassen Sie mich mit einem kurzen Gebet schließen, das die Brücke zwischen Shankaras Weisheit und christlicher Spiritualität schlagen könnte:
„Gott, hilf mir zu erkennen, dass in dir ‚leben, weben und sind wir‘. Lass mich durch die Oberfläche der Dinge hindurch die tiefere Wirklichkeit deiner Gegenwart in allem wahrnehmen. Möge ich jenseits der Trennung die Einheit finden, die du für alle deine Geschöpfe vorgesehen hast. Amen.“
von P. Oliver Heck